Porträt einer vergessenen Legende

Erschienen in: mare
Erscheinungsjahr: 2012
Ausgabe: Februar
Fotos: Hilmar Poganatz, Archiv, privat

aus dem inhalt

Cousteaus Rivale

Der alte Mann nimmt seine Tauchmaske aus der Tasche. Ihr großes Sichtglas ist oval und in Metall gefasst, ein ziemlich antiquiertes Modell. Mit einem geübten Handgriff zieht er sie über seinen weißen Schopf. Tiefliegende, braune Augen fliegen über das Blau des Mittelmeers, bis sie auf eine Gruppe sandfarbener Felsen stoßen: Die Illes Medes, größte Inselgruppe der Costa Brava, sind sein das Revier. Seit einem halben Jahrhundert.

Eduard Admetlla ist Spaniens wichtigster Taucher. 1957 überlebt er als erster Mensch der Welt einen Abstieg auf 100 Meter. Später wird er Entdecker, Umweltaktivist, Buchautor und Fernsehmoderator.

Heute ist der kleine Mann mit der hohen Stirn und dem sauber getrimmten Bart 88 Jahre alt [Anm.: *10.1.1924]. Wikipedia widmet ihm nur auf Katalanisch einen kurzen Eintrag, die Redaktion des Guinness-Buchs hat keine Daten über ihn, und selbst die Historical Diving Society muss tief in ihren Londoner Archiven graben. Anders als den französischen Unterwasser-Ikonen Jacques Cousteau und Frédéric Dumas hat ihm niemand ein Museum gebaut, einen Spielfilm oder eine New-Age-Platte gewidmet. Obwohl ihn die Taucher in seiner Heimat den „spanischen Cousteau “ nennen, bleibt er im Ausland weitgehend unbekannt. Der alte Mann aus Barcelona ist einer der letzten aktiven Pioniere aus der Anfangszeit des Sporttauchens.

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Dann kam „Die Schweigende Welt“. 1956 zaubert Jacques Cousteau die bislang verborgenen Meereslandschaften zum ersten Mal auf die Kinoleinwand. „Plötzlich konnten die französischen Fabriken ihre Aqualungen gar nicht schnell genug ausstoßen“, erinnert sich der britische Tauchpionier und Journalist Kendall McDonald. „Jeder wollte Kapitän Cousteau sein.“

Auch Eduard Admetlla. In seiner Bibliothek im großbürgerlichen Eixample-Viertel von Barcelona stehen noch heute alle 20 Bände der „Encyclopédie Cousteau“. Der Gastgeber erhebt sich von seinem Safari-Hocker, einem abgeschnittenen Elefantenfuß, und geht zum Regal. Er umrundet drei verkrustete römische Amphoren, einen Tisch voller exotischer Dolche und einen hüfthohen Standglobus, dann zieht er Cousteaus Buch „Die Schweigende Welt“ heraus. „Ich war einer seiner größten Bewunderer“, sagt Admetlla, und schlägt eine Seite auf: „Der Tiefenrausch war für uns nach wie vor ein großes Rätsel“, schreibt der Franzose: „Wir fühlten uns herausgefordert, immer tiefer zu gehen.“

Es sind giftige Gedanken. Gedanken, die süchtig machen, und Admetlla bald in einen Rausch versetzen. Er beschließt, tiefer zu tauchen als je ein Mensch zuvor. „Die Idee hatte gänzlich von mir Besitz ergriffen“, erinnert er sich mit einem leisen Lächeln. Auf den gerahmten Schwarzweißfotos dieser Jahre sieht er aus wie der junge Belmondo mit Gelfrisur: Admetlla mit dem König, Admetlla mit dem Team vom FC Barça, Admetlla mit einem Geparden als Schoßkätzchen. „Eitel“ sei er damals gewesen, und „todesmutig“.

Die Gefahren der Stickstoffnarkose sind Mitte der 50er Jahre bereits in Ansätzen bekannt: Je tiefer ein Mensch mit Druckluft taucht, desto mehr Stickstoff gelangt ins Gehirn. „Das erste Stadium ist eine leichte Anästhesie, nach der sich der Taucher wie ein Gott fühlt“, warnte Cousteau in seinem Buch: „Wenn er glaubt, ein vorbeischwimmender Fisch brauche dringend Luft, ist er in seinem Wahnsinn imstande, sich die Luftleitung aus dem Munde zu reißen und sie ihm großmütig anzubieten.“

1947 hatte Cousteau selbst eine Tiefe von 90 Metern erreicht. Wenig später schaffte es einer seiner Mitstreiter, seinen Namen auf ein Täfelchen in 120 Meter Tiefe zu schreiben: „Maurice Fargues“. Doch bevor er die Oberfläche erreichte, ließ er seinen Luftschlauch aus dem Mund gleiten. Cousteau zog ihn tot aus dem Meer, und die Franzosen stellten ihre Tieftauchversuche ein. Doch der Ruf der Tiefe hallte nach.

„Für den Taucher ist die Tiefsee, was für den Astronauten das Weltall ist“, sagt Admetlla: Der Aquanaut steige in seinen Raumanzug und betrete das Nichts, die lebensfeindliche Schwärze. Ein leichter Silberblick legt sich über seine Augen, seine Faszination ist ungebrochen. Denn Admetlla ist überzeugt, dass jeder Tieftauchgang nur ein kurzer Lichtblitz in unermesslicher Finsternis ist: „Was anderswo noch in den Tiefen des Meeres schlummert, wird der Mensch nie erfahren.“

1953 versenkte sich der 52 Jahre alte Amerikaner Hope Root ohne Tauchanzug und Sicherungsseil im Golfstrom vor Miami. Als sein Echolot die alte Rekordmarke schrieb, brandete auf seinem Schiff Applaus auf. Als die Linien des Tiefenschreibers erst auf 122 Meter hinabgingen, dann auf 140, und auf 200 Meter, verwandelte sich der Jubel in Schweigen. Roots Körper wurde nie gefunden.

Dennoch wagte Admetlla den Versuch. Mitte September 1957 fegten starke Herbststürme über die Südostspitze Spaniens, doch Admetlla war wild entschlossen: 86 Meter tief war er bereits getaucht. Jetzt wollte er als erster Mensch die 100 Meter erreichen – und überleben. So begierig auf den Rekord war er geworden, dass er die Armada überredet hatte, ihn wegen des hohen Wellengangs aus einem U-Boot heraus starten zu lassen.

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